„Der faule Frieden von heute schürt die Konflikte von morgen“
„Der faule Frieden von heute schürt die Konflikte von morgen“
Herr Professor Rammler, Autofahrer aus den Randbezirken gegen Grünenwähler auf Lastenrädern in der Innenstadt – wie lange werden wir mit diesem Klischee leben müssen?
So lange der politische Wettbewerb vor allem darin besteht, mit simplen Parolen die eigene Klientel zu bedienen. Akteure von ganz links bis ganz rechts gebärden sich als Interessenvertreter des sogenannten kleinen Mannes, der aufs Auto angewiesen sei. Hinter diesem Populismus verbirgt sich eine riskante Untätigkeit: Wer heute bei der Verkehrs- und Mobilitätswende auf die Bremse tritt, schadet auch den Menschen, die er zu verteidigen vorgibt.
Inwiefern ist es populistisch, auf den Bedarf an individueller Mobilität hinzuweisen?
Um dies klarzustellen: Ich bin kein Autohasser. Menschen auf dem Land brauchen auf absehbare Zeit ein eigenes Fahrzeug und jede ökologische Transformation sollte sozial abgefedert sein. Innerhalb der Städte sind die meisten Fahrten im Privatwagen aber überflüssig. Die Lösungen eines intermodalen Verkehrsnetzes – Leihfahrzeuge, öffentlicher Nahverkehr, Fahrrad – wären der Mehrheit der Bewohner und Pendler zuzumuten. Stattdessen zwingen diese Fahrer all jene, die tatsächlich auf ein eigenes Fahrzeug angewiesen sind, in den Stau. Handwerker oder Pflegediensten beispielsweise. Dieses Verständnis individueller Freiheit trägt Züge von Egomanie.
Sie sagen, das Verschleppen der Mobilitätswende schade letztlich allen. Was meinen Sie konkret?
Mit Blick auf künftige Generationen verbietet es sich, aus persönlicher Bequemlichkeit CO2 in die Luft zu blasen. Wer ohne Not einen großen Verbrenner fährt oder mehrfach im Jahr in den Ferienflieger steigt, sollte nicht mit dem Finger auf die Industrie zeigen und das Elend der Erde beklagen. Das ist bigott. Außerdem beanspruchen Autobesitzer innerhalb der Städte unfassbar viel Raum für einen Gegenstand, der durchschnittlich 23 Stunden am Tag ungenutzt herumsteht. Diese wertvolle Ressource fehlt für den Wohnungsbau oder auch für Grünflächen, die angesichts der Erderwärmung für die Städte überlebenswichtig werden. Vor diesem Hintergrund wird übrigens deutlich, wieso die Förderung von Elektroautos in der gegenwärtigen Form zu kurz greift. Die Emissionen von CO2 und Feinstaub mögen sinken. An der unsozialen Raumverteilung ändert sich aber nichts, wenn die Chefärztin künftig im staatlich geförderten Elektro-SUV in die Klinik fährt. Die Autos müssen kleiner werden, und es müssen insgesamt deutlich weniger davon auf unseren Straßen rollen.
Junge Klimaaktivisten sind dazu übergegangen, den Verkehr zu behindern. Der Anfang einer Revolution, die das Potenzial zur Gewalt hat?
Wir erleben einen echten Generationenkonflikt. Die Jüngeren beobachten zornig, wie die Älteren ihnen die Lebensgrundlagen entziehen. Ich schließe keineswegs aus, dass es eine Art Guerilla geben wird, die zu Gewalt greift. Anders ausgedrückt: Der faule Frieden von heute schürt die sozialen Konflikte von morgen.
Was erwarten Sie konkret von der Politik?
Fantasie statt Denklockaden, Gestaltungswillen statt Ausreden, verbunden mit einer Mischung aus Pull- und Pushmaßnahmen. Und nicht zuletzt den Mut, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Basis des eigenen Handelns zu machen.
Lassen Sie uns das der Reihe nach aufdröseln: Was meinen Sie mit Fantasie statt Denkblockaden?
Wir könnten beispielsweise die Wasserwege reaktivieren, denen viele unserer Städte einst ihre Gründung verdankten. Elektrisch betriebene Katamarane würden dann Güter bis in die Zentren hinein transportieren. Daneben würden geräumige Wassertaxen Pendler an Rhein, Ruhr, Spree oder Elbe von A nach B bringen. Anderes Beispiel: Seit Jahren verbinden in den bergigen Metropolen Medellín und La Paz Seilbahnen ganze Stadtviertel. Viele deutsche Verwaltungen weigern sich aber von vornherein, diese Möglichkeit auch hierzulande regional auszuloten. Dabei belegt eine Seilbahn auf dem Buga-Gelände in Berlin, dass solche Anlagen sogar im Flachland das Verkehrssystem ergänzen könnten.
Wo beobachten Sie den Gestaltungswillen, den Sie fordern?
Schauen Sie nach Paris und Barcelona. Innerhalb weniger Jahre haben es zwei durchsetzungsstarke Bürgermeisterinnen vermocht, Radfahrern und Fußgängern in einem Verkehrsumfeld Raum zu verschaffen, das als nahezu unreformierbar galt. Der Fortschritt, den das für alle bedeutet, lässt sich vor Ort täglich besichtigen. Solche Politiker wünsche ich mir: Streiten statt sich vor populistischen Scharfmachern wegducken. Das Richtige tun statt Unsinn zu verbreiten wie beispielsweise, dass ohne Autoverkehr Geschäfte sterben. Kopenhagen beweist seit Jahrzehnten das Gegenteil.
Welche Maßnahmen stellen Sie sich vor?
Eine massive Förderung der Fahrradinfrastruktur und des ÖPNV muss mit einem Rückbau indirekter Subventionen für das Auto einhergehen. Die Kommunen sollten öffentliches Land zu realistischen Gebühren zur Verfügung stellen – knallhart berechnet nach marktwirtschaftlichen Überlegungen: Was kostet die Ressource Raum? Was kostet die Instandsetzung von Straßen? Was kosten Emissionen? Darüber hinaus darf Steuergeld nicht weiterhin in immer neue Straßen fließen, die im Handumdrehen genauso überfüllt sind wie die bereits existierenden. Kurzum: Es muss attraktiver werden, sich sozial- und umweltverträglich fortzubewegen. Und wer sein Ego weiterhin über das Interesse der Allgemeinheit stellt, soll bezahlen.
In Ihren Ausführungen fehlt bisher ein Stichwort, das in aller Munde ist: Digitalisierung.
In der Mobilität der Zukunft spielt die Digitalisierung eine Rolle, so viel steht fest. Fragt sich nur, ob das theoretisch Machbare in der Praxis so funktionieren wird wie sich das viele Verfechter vorstellen. Zukunftsforscher und andere Wissenschaftler drängen seit Jahren darauf, Sicherheitsaspekte stärker zu berücksichtigen. Erfolgreiche Cyberangriffe auf unsere Infrastrukturen sind nur eine Frage der Zeit. Resiliente Mobilitätskonzepte setzen deshalb zusätzlich zur Digitalisierung weiterhin auf analoge Lösungen. Wir brauchen diese Backups.
Das klingt aufwändig und teuer.
Mobilität verträgt keine vollständige Automatisierung. Wenn ein Verkehrsnetz nur so lange funktioniert wie seine Sensoren und Überwachungssysteme, bricht über kurz oder lang Chaos aus. Wir brauchen Menschen, die im Ernstfall die Steuerung übernehmen können. Smarte Systeme werden den Fachkräftemangel also nicht lindern, sondern womöglich befeuern. Das bedeutet unter anderem: Zu den Politikfeldern, mit denen Mobilität zusammenhängt, gesellt sich neben Siedlungsbau, Sozialpolitik und Klimaschutz auch die Zuwanderung. Das alte Deutschland braucht mehr junge Menschen. Allein das zeigt, wie komplex das Thema ist.
Zur Person
Prof. Dr. Stephan Rammler
ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Berlin. Darüber hinaus lehrt er Transportation Design und Social Sciences in Braunschweig. Er ist Autor der Bücher „Volk ohne Wagen. Streitschrift für eine neue Mobilität“ und „Schubumkehr – Die Zukunft der Mobilität“.