Wie die Pressefreiheit im Krieg verteidigt wird
Wie die Pressefreiheit im Krieg verteidigt wird
Anfang März 2022 verschwindet Maxim Lewin in einem umkämpften Waldstück bei Huta-Mezhyhirska, 20 Kilometer nördlich von Kyjiw. Der bekannte ukrainische Kriegsfotograf sucht in dem Gebiet nach einer abgestürzten Drohne, mit der er Bilder der vorrückenden russischen Armee gemacht hatte. Doch Lewin verlässt den Wald nicht mehr. Der erfahrene Journalist, der bereits seit dem Jahr 2014 über den Krieg in der Ostukraine berichtet, und sein Bodyguard geraten in einen russischen Hinterhalt. Die Soldaten töten sie kaltblütig. Am 1. April 2022 wird Lewins Leiche mit drei Schusswunden gefunden.
Lewin ist nicht der einzige Medienschaffende, der die Berichterstattung über den russischen Angriff mit dem Leben bezahlt: Bei Mariupol wird der Körper des litauischen Dokumentarfilmers Mantas Kvedaravi?ius mit Brandwunden und gebrochenen Beinen gefunden, den französischen Fernsehreporter Frédéric Leclerc-Imhoff trifft das Schrapnell einer russischen Granate tödlich, die russische Journalistin Oksana Baulina stirbt bei einem Raketenangriff auf Kyjiw. Die Todesfälle zeigen: Moskau kämpft in der Ukraine auch gegen den unabhängigen Journalismus und die freie Berichterstattung. Der Kreml ignoriert internationale Bestimmungen zum Schutz von Journalisten in Kriegszeiten und schießt selbst auf Reporter, die Presse-Westen tragen. Elf Kriegsreporter sind bisher ums Leben gekommen, 28 weitere verwundet und etwa 50 russische Angriffe auf Journalisten bislang verzeichnet worden. Dazu kommt Moskaus Vorgehen in den okkupierten Gebieten in der Süd- und Ostukraine: dort werden Sendemasten, Technik und Infrastruktur ukrainischer Medien zerstört. Unabhängige Journalisten werden willkürlich verhaftet, massiv bedroht und zur Kollaboration mit russischen Propagandamedien gezwungen.
Der Kreml ignoriert internationale Bestimmungen zum Schutz von Journalisten in Kriegszeiten.
Was tun, um den bedrängten Medienschaffenden zu helfen? Welche Unterstützung brauchen sie, um ihre Arbeit fortzusetzen? Was kann für ihre Sicherheit getan werden? Vor diesen Fragen steht Reporter ohne Grenzen seit Beginn des Krieges in der Ukraine. Seit 1985 setzt sich die Organisation für Pressefreiheit weltweit ein und kämpft gegen Zensur und restriktive Mediengesetze. Im Zentrum der Überlegungen zur Unterstützung der ukrainischen Journalisten steht vor allem ein Ziel: arbeitsfähig bleiben auch unter den Bedingungen des russischen Angriffskrieges. Dafür benötigen sie unter anderem Schutzausrüstung, kugelsichere Westen und Helme - überlebensnotwendiges Equipment. Gemeinsam mit der ukrainischen Partnerorganisation Institute of Mass Information (IMI) wurde ein Pressezentrum im westukrainischen Lwiw ausgebaut, das bereits Anfang März 2022 die ersten kugelsicheren Westen und Helme verteilte.
Die Tätigkeit des Pressezentrums beschränkt sich indes nicht auf das Verteilen von Schutzausrüstung. Für ukrainische und internationale Journalisten werden Schulungen angeboten, damit sie sich möglichst sicher im Krieg bewegen können: Wie wappnet man sich psychisch für den Einsatz? Wie verhalte ich mich gegenüber Soldaten an einem Checkpoint? Welche militärischen Objekte dürfen fotografiert werden, welche nicht? Um solche und ähnliche praktische Fragen drehen sich die in ukrainischer und englischer Sprache angebotenen Kurse. Außerdem verteilt das Pressezentrum Verbandskästen, führt Erste-Hilfe-Kurse durch und bietet psychologische Beratung für die Verarbeitung von kriegsbedingten Traumata an.
Das Medienzentrum in Lwiw verzeichnete eine stetig steigende Nachfrage, daher hat RSF im Mai 2022 ein zweites Pressezentrum in Kyjiw eingerichtet. Zusammen gaben die beiden Außenstellen in den ersten sechs Monaten des Krieges 555 kugelsichere Westen, 549 Helme, 1.011 Erste-Hilfe- Sets und 342 Solarbatterien aus.
Darüber hinaus hilft Reporter ohne Grenzen in Not geratenen ukrainischen Redakteuren und Reportern auch finanziell. Insgesamt erhielten im ersten Kriegsjahr 129 Medienschaffende Arbeitsstipendien, beispielsweise für Umzüge aus russisch okkupiertem Gebiet in ukrainisch-kontrollierte Landesteile. Aber auch medizinische Behandlung oder die Reparatur von beschädigten Kameras können so bezahlt werden. Besonders wichtig ist aber auch die Dokumentation von russischen Angriffen auf Medienschaffende, bei denen Materialien und Beweise für spätere Gerichtsprozesse gesammelt werden. Seit Kriegsbeginn hat RSF acht Strafanzeigen wegen mutmaßlicher russischer Verbrechen in der Ukraine beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht.