Die Grenzsprengerin

Die Grenzsprengerin

Vertriebler, die ihre Kunden direkt aufsuchen: Im digitalen Zeitalter ist das zu wenig, um im Geschäft zu bleiben. Die BERENDSOHN AG hat sich deshalb einer Radikalkur unterzogen, um ihr Angebot an Werbeartikeln mit digitalen Dienstleistungen zu verzahnen. Ein Erfolgsfaktor war eine Führungspersönlichkeit, die Grenzen akzeptiert, setzt und überwindet.

Ich möchte eine Umgebung schaffen, in der sich Menschen psychisch sicher fühlen und entfalten können.«

 

Eine junge Frau sitzt im Flieger nach Miami. Entschlossen, sich auf den ersten Urlaub seit anderthalb Jahren zu freuen, lehnt sie sich zurück – und fängt an zu weinen. „Mir wurde auf einen Schlag klar, dass ich meine eigenen Grenzen ignoriert hatte“, erinnert sich Astrid Schulte, die diesen Tag im Jahr 1999 als Wendepunkt bezeichnet. Viel zu lange habe sie 80 Stunden in der Woche für Ziele geackert, die nicht ihre eigenen waren, und brüllende Chefs ertragen. Kaum am Urlaubsort angelangt, kündigt die damals 34-Jährige ihren Job bei einem Start-up und beschließt, künftig den eigenen Wünschen zu folgen. Zwei Jahre später wagt Astrid Schulte den Schritt ins Unternehmertum: Sie steigt als Partnerin bei bellybutton ein, einem Unternehmen für Produkte rund um Schwangerschaft und Kleinkind. Zu diesem Zeitpunkt ist sie selbst mit der ersten Tochter Paula schwanger. Elli und Carla folgen 2002 und 2003. „Ich wollte immer Kinder haben“, sagt Astrid Schulte. „Meine eigene Chefin zu sein, hat mir die nötige Flexibilität dafür verschafft.“

24 Jahre später steht für die Unternehmerin fest: „Ich führe ein tolles Leben: Meine Aufgaben erfüllen mich, ich bin gesund, meinen Kindern geht es gut, ich pflege enge Beziehungen zu Freunden.“ Nicht zu vergessen: Als Gesellschafterin der BERENDSOHN AG, deren Vorstand sie seit 2017 vorsitzt, hat die gebürtige Westfälin ein Hamburger Familienunternehmen in die Gewinnzone zurückgeführt. Im Vorjahresvergleich erwartet der Anbieter von Werbemitteln und Digitalprodukten für 2023 ein Umsatzplus von 15 Prozent. Gelungen ist dies dank einer Transformation, in der viele Menschen Grenzen überwinden oder setzen lernen mussten. 

„Ich fand einen Vertrieb vor, der neben einer unschätzbaren Stärke eine Herausforderung aufwies“, erläutert Astrid Schulte. Die Stärke: etablierte und sehr persönliche Kontakte zu den Kunden. Die Herausforderung: Innovationsstau. BERENDSOHN versorgt eine Vielzahl von Klein- und Kleinstunternehmen mit originellen, hochwertigen Geschenken und Werbemitteln für Endkunden, Mitarbeiter und Partner. Das sollte auch so bleiben. Woran es aber beispielsweise bei Handwerksbetrieben oftmals hapert, sind der Webauftritt, gezielte Anzeigen in sozialen Medien und die Sichtbarkeit in den digitalen Medien, beispielsweise auf Google. Mit dem Anspruch, analoge und digitale Dienstleistungen zu verbinden sowie Entscheidungswege abzukürzen, baute Astrid Schulte das 190 Jahre alte Familienunternehmen um. BERENDSOHN stellte unter anderem Webdesigner ein, schickte altgediente Vertriebler in Weiterbildungen und riss Hierarchiegrenzen nieder: Statt fünf gibt es im deutschen Vertrieb nur noch zwei Ebenen, mit Astrid Schulte selbst an der Spitze. Zudem trennte sich BERENDSOHN von Mitarbeitern.

Die Grundpfeiler sind für mich Verbundenheit und Klarheit.

 

Eine Neuausrichtung wie diese geht zwangsläufig mit Sorgen und Konflikten einher. Wo andere Führungspersönlichkeiten allerdings den „eisernen Besen“ geschwungen hätten, entschied sich Astrid Schulte für einen anderen Stil. „Die Grundpfeiler sind für mich Verbundenheit und Klarheit“, erläutert die Unternehmerin. „Verbundenheit bedeutet, jeden Menschen mit seinen Wünschen und Sehnsüchten anzuerkennen und persönliche Grenzen zu respektieren. Auf dieser Basis kann ich anschließend klar formulieren, was ich anbiete und was ich erwarte.“ Astrid Schulte führte mit diesem Ziel in den ersten 100 Tagen als Vorstandsvorsitzende 100 Gespräche. Darin kam unter anderem zur Sprache, was den Menschen bei BERENDSOHN gefällt: gemeinschaftlich anpacken, gegenseitiger Respekt, füreinander einstehen. Diese wiederkehrenden Motive fanden anschließend Eingang in die Unternehmenswerte Zugehörigkeit und Wertschätzung. Außerdem ermuntert Astrid Schulte ihre Mitarbeiter, authentisch zu sein statt sich Rollen aufzuerlegen: „Ich möchte eine Umgebung schaffen, in der sich Menschen psychisch sicher fühlen und entfalten können.“ Deshalb kontrolliert bei BERENDSOHN beispielsweise niemand, ob ein Mitarbeiter die Wochenarbeitszeit erreicht. Stattdessen werden individuelle Quartalsziele vereinbart. Die dazugehörigen Unternehmenswerte lauten Freiheit und Sicherheit. 

Gibt es dennoch Grenzen, die niemand bei BERENDSOHN überschreiten darf? „Unverhandelbar sind die Vision, die Strategie, diese zu erreichen, und die Werte“, antwortet Astrid Schulte und fügt hinzu: „Einige Mitarbeiter mussten das Unternehmen genau deshalb auch verlassen: Sie hatten die Strategie torpediert.“ Um Zuspruch für ihren Weg muss die Unternehmerin mittlerweile nicht mehr kämpfen – weder intern noch extern. Während andere Unternehmen über den Fachkräftemangel klagen, gehen bei BERENDSOHN jeden Monat rund 350 Bewerbungen ein. 

Zur Person

Astrid Schulte

„Kraft schöpfe ich aus der Stille“, sagt Astrid Schulte. „Deshalb meditiere ich jeden Morgen 15 Minuten und verbringe zwei Wochenenden im Jahr im Benediktushof.“ Das frühere Kloster bietet unter anderem Seminare zur Kontemplation und Selbsterfahrung. 

 

Das Unternehmen

BERENDSOHN AG

Branche: Werbegeschenke und -artikel, Online Marketing, digitale Services 
Gründungsjahre: 1833
Mitarbeiterzahl: 450
Umsatz: Rund 40 millionen Euro 

 

 
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